E-Health: auch in Deutschland?

Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter oder Großmutter ist 83 und herzkrank. Hatten im Alter von 50 noch Maiglöckchen- Blumentropfen gereicht, so braucht sie nun Marcumar (Phenprocoumon). Marcumar kann bei Überdosierung zu Niereninsuffizienz führen. Neben der Herzschwäche sind noch einige andere Zipperlein vorhanden: Hüfte, Kniee, Zähne, Entzündungen und was man in dem Alter noch so alles hat. In zwei Szenarien wollen wir uns anschauen, was da so passieren kann: mit und ohne E-Health.

Einführung

Vor über 10 Jahren schrieb ich eine Studie „Zu Hause wohnen im Alter“. Daraus einige Erkenntnisse:

  • Bis 2050 werden die Deutschen um 30% ohne Zuwanderung weniger Bis dahin werden die Babyboomer, geboren in der Zeit vor dem Pillenknick, tot sein und die geringe Fertilität von 1,4 Kinder pro Frau in der BRD und DDR über mehrere Generationen hinweg den Nachwuchs drastisch schrumpfen lassen.
  • 2030 werden die meisten Babyboomer in Rente sein. Wegen unserer guten Medizin werden viele dann in Pflege kommen mit Herzkrankheiten, Diabetes mit alle seinen Folgekrankheiten (amputierter diabetische Fuß, Herzinfarkt, Schlaganfall, Blindheit, usw.) und Demenz/Alzheimer.
  • Ein Drittel der Plegebedürftigen wird stationär behandelt werden, 2/3 werden zu Hause ambulant oder von Familienangehörigen gepflegt werden.
  • Wegen der Demografie wird es Engpässe bei Pflegepersonal, aber auch bei Geld für Renten-, Pflege- und Krankenkassen geben, wenn man nicht durch Zuwanderung versucht, die erwerbstätige Bevölkerung zumindest konstant zu halten und Effizienzsteigerungen durch E-Health zu bewirken. Zwei Beispiele:
    • Die Charité in Berlin hat seit vielen Jahren die Überwachung von Herzschrittmacher/Defibrillatoren erprobt. Patienten überall in Deutschland übertragen nachts digital die Werte ihres Defibrillators, ihrer Körperwaage und ihres Blutdruckmessgerätes an die Klinik. Hat ein Patient dann beispielsweise drei kg in zwei Tagen zugenommen, liegt der Verdacht nahe, dass er Wasser in den Beinen hat. Wasser in den Beinen oder in der Lunge sind auf verringerte Pumpleistung des Herzens zurückzuführen, die zu verringerter Sauerstoffzuführung zum Gehirn führen, was schwere Stammhirnschädigungen verursachen kann. Eine Maschine und/oder ein Arzt können dann morgens sofort Alarm geben und den Patienten retten.
    • Für chronisch Kranke gibt es heute Deseasemanagementprogramme. Z.B. Diabetiker vom Typ 2 (teilweise ausgefallene Insulinproduktion) und Typ 1 (keine Insulinproduktion) können sich durch Einzelmessungen (z.B. Accucheck Mobile) oder Dauermessungen (z.B. Dexcom Continous Glucose Monitoring) durch Sensoren und Sender (wie sie Theresa May, Typ 1, auf dem Oberarm trägt) selbst kontinuierlich den Blutzuckergehalt überwachen. Ist er zu niedrig, droht Bewusstlosigkeit, ist er dauerhaft zu hoch drohen schwere Folgeschäden (s.o.). Sie können diese Daten aber auch online hochladen und sie dann in einem Telefongespräch mit ihrem Diabetes-Arzt besprechen, ob die Therapie (Ernährung, Bewegung, Insulingabe) zielführend ist. Dies ist ein zweites Beispiel für pragmatische Telemedizin.

Gesundheitskarte – Hardware ohne Anwendungen

Ursprünglich sollte in Deutschland 2006 (§ 291a SGB V von 2003) eine elektronische Gesundheitskarte eingeführt werden. Ursprünglich sollten damit weitere Funktionen erbracht werden können:

  • Träger von Notfallversorgungsdaten,
  • elektronischer Arztbrief,
  • persönliche Arzneimittelrisiken,
  • Elektronische Patientenakte (§ 68 SGB V seit 2004),
  • E-Rezept.

Nichts davon wurde bis 2019 realisiert. Heute dient die Gesundheitskarte nur dazu, sich beim Arzt anzumelden und der kann Stammdatenpflege für die Krankenkasse durchführen (Änderung Postanschrift und so etwas). Die gematik kam trotz vieler Milliarden DM/€ nicht aus dem Knick. Ärzte sabotierten. Der Datenschutz fand, dass der Datenschutz wichtiger sei als das menschliche Leben.

Schauen wir uns deshalb in Szenario 1 an, wie realexistierendes E-Health heute in Deutschland ist:

Szenario 1 klassisch und letal

Medikamentenvielfalt bei über 80-jährigen

Medikamentenvielfalt bei über 80-jährigen

Die 82-jähruge Dame auf dem Bild ist herzleidend und Marcumar-Patientin. Mehrere Male war sie kurz davor, dass sie an eine künstliche Niere angeschlossen werden musste, womöglich, weil das Marcumar zu hoch dosiert war oder mit den vielen anderen Medikamenten (siehe Bild) unkontrolliert wechselwirkte. Als ich das Bild machte, sagte sie: „Ach, ich habe ein neues Medikament. Wofür war das noch Mal? Wieviel muss ich davon wie oft nehmen?“. Was hatte das für Folgen im Einzelnen?

  • Natürlich hatte sie weder auf Papier noch auf der eGK eine Übersicht, welche Pharmazeutika sie nach Meinung mehrere Ärzte nehmen musste.
  • Natürlich konnte sie trotz ihrer Gehbehinderung (Hüfte, Kniee) nicht einfach beim Arzt anrufen, der bei verbrauchten Medikamenten einfach ein neues Rezept an eine Apotheke sendet, die ihr dann das Medikament nach Hause bringt. Den Lieferservice haben viele Apotheken selbst implementiert (bei paralleler Bekämpfung des Lieferdienstes von DocMorris), aber die rechtlichen elektronischen Voraussetzungen haben sie für das Mailrezept nicht, während in anderen Ländern ein Apotheker selbst ohne Arzt eine Lieferung von Folgemedikamenten veranlassen kann. Also muss sich die Dame mühselig zum Arzt schleppen, um höchstselbst oder einen Vertrauten ein Rezept auf Papier vom Arzt zum Apotheker zu tragen. Deutschland 2019
  • Niemand überprüft die Wechselwirkung der anderen Medikamente mit Marcumar. Damit wird die Überdosierung wahrscheinlicher und der Weg zur Niereninsuffizienz. Die Krankenkasse ist die einzige Organisation, die alle Medikamente kennt, weil sie sie bezahlt. Aber darauf haben die andere Stakeholder im Gesundheitswesen keinen Zugriff.
  • Sonntags abends fühl sich die Dame sehr schlecht und sie ruft sich einen Rettungswagen. Der bringt sie sofort in das nächstgelegene Krankenhaus. Keine Daten sind verfügbar auf Papier oder elektronisch. Die Dame gleitet in Bewusstlosigkeit, kann selbst auch keine Auskunft mehr geben. Das Krankenhaus weiß nicht, was sie hat und dienstags morgen ist die Dame tot. Letaler Verzicht auf E-Health, hoher Datenschutz: beide gegen das Leben gerichtet.
  • Zynischerweise muss man hinzufügen, dass Kranken-, Pflege- und Rentenkasse natürlich viel Geld sparen, wenn die Patienten früher sterben (wie wir auch bei ca. 400.000 jährlichen, vorzeitigen Toten in Deutschland sehen, die ihr Leben lassen, weil wir politisch eine feinstaubfreundliche Umweltpolitik einer lebenserhaltenden Umwelt vorgezogen haben, was bei Greta zunehmend auf Widerstand trifft).

Szenario 2 Weiterleben mit E-Health

Will man das Leben von älteren Menschen schützen (insbesondere bei über 80-jährigen steigt die Anfälligkeit für Krankheiten (Herz, Diabetes, Demenz), wird man mehr E-Health auch in Deutschland einsetzen müssen, auch wenn es teurer für Krankenkasse, Pflegekasse und Rentenkasse ist als die Menschen einfach sterben zu lassen wie in Szenario 1. Was also kann man tun, um den Babyboomer-Berg mit Würde durch das Alter zu bringen? Hier sollen einige Beispiele gezeigt werden.

Gesetzliche Infrastruktur
Nach fast 20-jährigem Gerede über gesetzliche Infrastrukturen im Gesundheitswesen muss endlich gehandelt werden. Wie schon Aristoteles für das Drama wusste: „Dass da gehandelt wird und nicht erzählt“.

  • Als erstes wird eine umfassende Patientenakte
    • Dort müssen als Inhalte nicht nur Metadaten hinein (Datensätze der Krankenkassen über Diagnose, Therapie nach genormten Schlüsseln, Kosten, etc.) sondern auch medizinische Daten direkt (Röntgen- und CRT-Bilder, Messwerte Blutzucker, Herz, Körpergewicht, Blutwerte usw.).
    • Die Zugriffsrechte müssen entsprechend der Rolle gewährleistet sein (Arzt niedergelassen oder im Krankenhaus, ärztliches Hilfspersonal, Pflegepersonal (ambulant und stationär), pflegende Angehörige, Patienten, Krankenkassen.
    • Die Datenmengen werden groß sein, so dass die Anwendungen in BSI-zertifizierte Cloud in Deutschland kommen müssen (wie die Bodycam-Filme der Bundespolizei), um Lastspitzen dynamisch abfangen zu können und höchste Verfügbarkeit zu gewährleisten.
    • Datenschutz muss durchgesetzt sein (nicht nur gefordert und bei Nichtvorhandensein Geldbußen für den Staat eintreiben) sowohl nach DSGVO als auch nach StGB (z.B. 203 Verletzung von Privatgeheimnissen). Dazu helfen z.B. Verschlüsselung der personenbezogenen Daten in der Cloud und Hardware für den Zugang (z.B. SecurID).
    • Ziel muss es sein, theoretisch in Notfällen überall und jederzeit auf lebenswichtige Patientendaten zugreifen zu können, um z.B. das Ableben von Marcumar-Patientinnen (siehe oben) durch Niereninsuffizienz zu vermeiden. Das leichtfertige Hinnehmen vom Ableben von Patienten muss ein Ende haben!
  • Ein einfacheres Beispiel ist das E-Rezept. Hier sollte endlich, mindestens bei chronischen Patienten mit regelmäßigem Medikamentenbedarf, implementiert werden, dass bei Anruf von einem Patienten in der Arztpraxis ein notwendiges Rezept per E-Mail an Apotheke gesendet wird, die dann die Medikamente zu Hause abliefert. Es ist unwürdig, wenn über 80% der Deutschen das Internet nutzen, dass dann zur Folgelieferung von Medikamenten kranke Menschen oder ihre Angehörigen zum Transport von einem winzigen Stück Papier (DIN A6) missbraucht werden, weil Saboteure dem Amazon-Beispiel nicht folgen wollen.
  • Notrufe und GPS-Tracker (um herum irrende Demenzkranke zu finden) sollten schnell zum Standard-Repertoire gehören.
  • Die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) hat noch so gut wie keinen Eingang in das Gesundheitssystem gefunden. Doch hier sind zwei Baustellen drängend, wenn einem das Leben der Patienten wichtig ist:
    • Die Messdaten aus der Gesundheitsakte müssen anonymisiert der Forschung zur Verfügung gestellt werden. Hier darf nicht weiter Pseudodatenschutz mit Milliardenaufwand einfach in unserer Ethik über das menschliche Leben gestellt werden. Der Kant‘sche Imperativ lautet „Du sollst nicht töten!“ und nicht „Du sollst die Daten verheimlichen, warum wir jemanden sterben lassen!“:
      Für das obige Marcumar-Beispiel heißt das z.B., dass dringend mit KI unterstützt errechnet wird, wie andere Medikamente die Dosierung und Wirkung von Marcumar beeinflussen, um auf jeden Fall einen Niereninsuffizienz durch zu hohe Dosierung zu vermeiden. Hier müssen die anonymisierten Daten als Open Data für die Forschung bereitgestellt werden, die wiederum ihre Ergebnisse als Open Data / Open Access zur Verfügung stellt.
    • Die Ergebnisse aus der Forschung können dann in KI zur Unterstützung der Therapie verwendet werden. Wenn also ein anderer Arzt (nicht der Kardiologe) neben Marcumar ein anderes Medikament verordnen will, dann wäre es denkbar, dass er das erst in der Gesundheitsakte simuliert, so dass die Medikamentengabe ganzheitlich harmonisiert werden kann. Dabei ist es egal, ob die KI als zweite Meinung oder als Ratgeber oder verbindlich genutzt wird. Aber man darf die Patienten durch unterlassene Kommunikation nicht einfach weiter sterben lassen!

In anderen Ländern

Gibt es Beispiele in anderen Ländern, von denen wir lernen können?

  • In Dänemark gibt es eine allgemein anerkannt gute Patientenakte. Mediziner, Patienten, Krankenkassen sind beteiligt. 80% der dänischen Versicherten geben an, mindestens einmal im Jahr online in ihre eigene Akte zu sehen.
  • In England ist der Versuch des NHS, das Gesundheitssystem in ganz großem Wurf Accenture zwar vor einigen Jahren gescheitert, aber z.B. gibt es bei der „blutigen Entlassung“ Erfolge. Nurses bekommen elektronisch Daten für ambulante Pflege, wenn Patienten schnell nach einer Operation nach Hause entlassen werden sollen. Auch hat das Open Data Institute mit Daten von NHS die Verschreibungsgewohnten bei Generika von Practitioners untersucht, wobei herauskam, dass Landärzte eher Originalmedikamente verschreiben, während Stadtärzte eher zu Generika greifen. Bei Wirkungsgleichheit wurde hier ein Sparpotential von mehreren hundert Millionen Pfund aufgezeigt.
  • In Österreich ist die ELGA (elektronische Gesundheitsakte) erfolgreich, die u.a. Daten über den Standard HL7 austauscht.

Es lohnt sich, die positiven Erfahrungen aus dem Ausland vermehrt in die Verbesserung des deutschen Gesundheitssystems ein zu bringen.

Zusammenfassung

Die wenigen Beispiele in den zwei Szenarien zeigen, dass wir in Deutschland dringenden Handlungsbedarf haben, durch E-Health unsere Gesundheitsversorgung effektiver und effizienter zu machen. Es darf nicht weiter sein, dass wir durch Sabotage, Pseudodatenschutz, Partikularinteresse weiter über Leichen gehen und Menschen sterben lassen, nur weil uns der Ruck des Herrn Herzog noch immer nicht motiviert hat, endlich aus dem Knick zu kommen. Es gibt im Ausland und im Inland zahlreiche Beispiele, wie wir mit moderner Technologie auch da Leben für unsere älteren Mitbürger verbessern und verlängern können. Wir müssen es aber endlich machen.

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