Alan Turing (1912-1954) war ein begnadeter britischer Mathematiker, der bahnbrechende Arbeiten für die moderne Informatik geschaffen hat. In Bletchley Park (ein Herrenhaus zwischen London, Cambridge und Oxford) leistete er im britischen Geheimdienst (einem Vorläufer des heutigen GCHQ – Government Communications Headquarters, das durch den NSA-Spionage-GAU durch Edward Snowden bekannt wurde) den entscheidenden Beitrag zur Entschlüsselung von Funksprüchen der deutschen Wehrmacht, die mit der Enigma verschlüsselt waren. Das rettete vielen Menschen das Leben und verkürzte den Zweiten Weltkrieg. Wegen seiner Homosexualität wurde er von der britischen Regierung auf das Schändlichste behandelt. Erst jüngst änderte sich die Einstellung zu ihm und seinen Eigenschaften.
Seine drei wichtigsten wissenschaftlichen Werke
In den 1920er Jahren brodelte die Wissenschaft (meist in Deutschland). Albert Einstein formulierte seine spezielle (1905) und allgemeine Relativitätstheorie. Werner Heisenberg (Leipzig, mit der fundamentalen Erkenntnis der Unschärfeproblematik, dass eine Elektron nicht messen kann, was in der Größenordnung des Elektrons ist, so dass man z.B. nicht den Aufenthaltsort eines Elektrons messen kann) und Erwin Schrödinger (Wien, Diskurs mit Heisenberg: Korpuskel vs. Welle, die Quantenmechaniker arbeiten heute mit Schrödingers Wellengleichung) arbeiteten an einer nichtrelativistischen Quantenmechanik. Niels Bohr stellte ein quantenmechanisches Atommodell vor, Otto Hahn und Lise Meitner knackten das Atom in Berlin. Es war die Zeit, in der die Naturwissenschaft immer abstrakter und theoretischer wurde, so dass Logik und Mathematik immer wichtiger wurde. Obwohl noch viele andere zu nennen wäre, soll dies reichen, um deutlich zu machen, an welche Epoche und welchen globalen Diskurs Alan Turing anknüpfte, was natürlich in einer weltfremden Umgebung wie einer Elitehochschule wie Cambridge am besten gefördert wurde.
Die drei wichtigsten Werke von Alan Turing werden heute in England online gehalten. Hier werden sie kurz genannt mit Links auf die PDF-Dateien in den Oxfordjournals.
- On Computational Numbers, with an Application to the „Entscheidungsproblem„. 1936.
Hierin werden die entscheidenden Grundlagen für die Computerwissenschaft überhaupt gelegt (Informatik wird im englischsprachigen Raum auch Computer Science genannt). Aus der Logik und Mathematik heraus wird gezeigt, was (mit Maschinen) überhaupt berechenbar ist. Abstrakt wird auch eine Maschine eingeführt (später Turing-Maschine genannt). Gelöst wird das Entscheidungsproblem dadurch, dass es ein Entscheidungsverfahren gibt oder nicht. (Persönlich finde ich die Visualisierung der Mandelbrot-Menge (vulgo Apfelmann) am anschaulichsten. Dort wo die logistische Gleichung im komplexen Zahlenraum um den Ursprung in endlichen Schritten (wenigen) konvergiert, zeigen sich die fraktalen Bilder der Apfelmännchen, die bei immer höher werdenden Auflösung immer mehr Apfelmännchen. Die Gleichung ist einfach, das Entscheidungsverfahren (Konvergenz oder nicht) auch.) Eingeführt wird in diesem Artikel auch die Turing-Maschine. - Computing Machinery and Intelligence. October, 1950.
Hier wird der Grundfrage nachgegangen, ob Maschinen denken können und wenn ja, wie man es beweisen kann. Dazu wird das Imitation Game. Ein Menschlicher Richter (Judge) soll Fragen stellen. Kann er nicht unterscheiden, ob die Antwort von einem Menschen oder einer Maschine kam und es war eine Maschine, dann ist diese intelligent. Diese Arbeit gilt als grundlegend für die Künstliche Intelligenz und hat als Turing-Test Eingang in die Analen der Weltgeschichte gefunden. Der deutsche Informatiker Joseph Weizenbaum (1923-2008) implementierte diesen Test in seiner Zeit am MIT mit dem weltberühmten Programm Eliza. - The Chemical Basis of Morphogenesis.1952.
In der modernen Genetik ist für die Analyse der DNS über die reine Phänomenologie einzelner Merkmale wie zum Beispiel von Gregor Mendel hinaus ein mathematisches Modell und eine chemische Grundlage enorm wichtig. Auch hier hat Alan Turing entscheidende Beiträge zur theoretischen Biologie geleistet.
Codebreaking
Im Zweiten Weltkrieg kam Turing nach Bletchley Park. Um das dortige Herrenhaus herum hatten sich in mehreren Hütten Geheimdienstmitarbeiter niedergelassen. Ihre Aufgabe war es, deutsche Funksprüche zu entschlüsseln. Damals hatten die Deutschen Enigma-Verschlüsselungsmaschinen, die als sicher galten.
Alan Turing baute dann mit seinem Team in Hütte 6 die „Bombe“. Mit ihrer Hilfe war es möglich, nahezu in Echtzeit statt mit einem Nachlauf von mehreren Wochen die deutschen Funksprüche zu entschlüsseln. Dies war insbesondere wichtig, um die britischen Schiff-Konvois im Atlantik zu schützen, die von deutschen U-Booten angegriffen wurden.
Die Turing-Bombe Bild von Markus Manske
Durch die Entschlüsselung wurde der Krieg zur See drastisch abgekürzt. Sogar Winston Churchill besuchte Alan Turing persönlich, da ihm um die Wichtigkeit der Arbeit Alan Turings für den Sieg über die Deutschen klar war. Aber nach dem Krieg musste alles, was in Bletchley Park geschehen war, bis in die 1970er Jahre geheim gehalten werden. Somit wurde Turing auch keine Ehrung für die Verdienst um sein Vaterland zu Teil. Viele Dokumente zu der Zeit in Bletchley Park findet man auf dem Server alanturing.net.
Homosexualität und Tod
Turing war homosexuell, was in England damals strafbar war (wie in Deutschland mit dem §175 StGB damals bis 1994 auch). 1952 zeigte Turing einen Diebstahl in seiner Wohnung an. Offenbar war der Deib ein Leibhaber von ihm. Vor der Polizei gestand er seine Homosexualität und wurde darauf vor Gericht vor die Wahl gestellt, entweder ins Gefängnis zu gehen oder sich einer chemischen Kastration zu unterziehen (Hormon-Therapie). Turing wählte die Hormontherapie. Nach Abschluss der Therapie starb Turing. Neben seinem Bett fand man einen Apfel, der mit Cyanid vergiftet gewesen sein soll. Zwar experimentierte Turing auch mit Cyanid, aber der Apfel war chemisch nicht untersucht worden. So ist offen, ob Turing durch Selbstmord oder durch einen Unfall starb. Auf jeden Fall war es ein großer Verlust für die Menschheit.
Reflexion in Literatur und Film
In der akademischen Welt hat Turing gewaltige Spuren hinterlassen bis in die heutige Zeit. Aber sein Engagement für die Abwehr der deutschen Kriegsverbrecher wurde durch die Geheimhaltung bis in die 1970er Jahre nicht gewürdigt. Erst nach und nach drangen die Verdienste ins öffentliche Bewusstsein und die schlimme Behandlung wegen seiner Homosexualität.
1986 brachte die BBC das Theaterstück „Breaking the Code – Biography of Alan Turing“ (90 Minuten – auf Open Culture frei online zu sehen) als Film auf den Markt, der auf dem Buch „Alan Turing: The Enigma“ von Andrew Hodges basierte. Hier ging es im Wesentlichen um die Ereignisse in 1952, als Turing wegen seiner Homosexualität bestraft wurde.
1987 schrieb Rolf Hochhuth einen Roman: Alan Turing. Hochhuth schildert sehr dramatisch aus der Perspektive einer Chronistin in Bletchley Park die wesentlichen Elemente der Codebreaking-Geschichte. Sein wesentliches Thema aber ist, ob und wann man im Krieg töten darf. Zum Beispiel die Frage, darf man es unterlassen ein Schiff zu warnen, damit nicht auffliegt, dass die Engländer den Code geknackt haben?
Ende der 1980er, als Hochhuth den Roman veröffentlichte, hatte ich den Luxus, freies Surfen in der Bibliothek des Rechenzentrums zu haben, in dem ich arbeitete. Ich las dort alle die Auswirkungen Turings Schaffens bis hin zu Weizenbaums Eliza. Ich war entsetzt, als ich erfuhr, wie die Briten einen verdienten Kriegshelden wegen seiner Homosexualität behandelten.Im Februar 2015 ist der Roman bei rororo neu aufgelegt orden.
1995 schrieb der britische Autor Robert Harris den Roman Enigma mit den tatsächlichen Fakten aus Bletchley Park aber mit fiktiven Personen. Im Roman Enigma wird auch das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn eingebaut. An die Story Alan Turings traute sich Robert Harris damals offenbar noch nicht heran. Dieser Roman wurde als Enigma – das Geheimnis in 2001 verfilmt.
1992 sendete die BBC eine zweiteilige Dokumentation „The Strange Life and Death of Dr. Turing“. Interessant hierbei ist, dass sehr viele Zeitzeugen noch lebten und befragt wurden. Die beiden Teile sind auf Youtube online: Teil 1, 28 Minuten und Teil 2, 20 Minuten.
2014 wurde mit Benedict Cumberbatch (bekannt durch Sherlock, siehe auch meine Artikel über Sherlock Holmes: 221B Baker Street: Home of Sherlock Holmes und Sherlock Holmes, das Dartmoor und das Urheberrecht) als Darsteller für Alan Turing der Film Imitation Game in die Kinos gebracht (Offizieller Trailer und deutsche Filmwebsite). Der Film wurde für mehrere Oscars nominiert. In ihm werden hoch spannend und hoch emotional die Ereignisse ins Bild gesetzt. Auch mit dem Setting, den Kostümen wurde Glanzleistungen vollbracht. Eine Muss-Empfehlung für Turing- und Cumberbatchfans!
2015 brachte der öffentlich-rechtlichte Sender ARTE eine einstündige Dokumentation über Turing: „Wie ein Mathematiker Hitler knackte – der Fall Alan Turing„. Dieser Beitrag soll auch in YouTube sein.
Geheimdienstliche Fragestellungen
Die Episode in Alan Turings Leben, die sich in Bletchley Park abspielt, zeigt noch eine andere Facette. In einem verbrecherischen Angriffskrieg wird England von Deutschland überfallen. Um sich zu wehren, versucht der britische Geheimdienst mit aller Kraft, die deutschen Funksprüche abzufangen und zu entschlüsseln. Dabei setzte er SIGINT (Signals Intelligence) ein wie heute GCHQ und NSA auch und nicht HUMINT (Human Intelligence), wie es MI5 und MI6 oder die CIA machen. Hier sieht jeder ein, wie zwingend notwendig (und nicht nur legitim) für das Überleben des Staates als Ganzes diese Spionage ist. Anders dagegen ist es mit der Wirtschaftsspionage und der Totalüberwachung der Bevölkerung und auch mit der angeblichen Terrorüberwachung, die in Deutschland effizienter vom Baumarkt Hornbach als vom Bundesnachrichtendienst oder dem Verfassungschutz durchgeführt wird, wie jüngt ein Beispiel im Wasserstoffperoxidhandel zeigte (siehe Artikel: „Polizei lobte „aufmerksame Verkäuferin“ im Baumarkt„). Die Entartungen von GHCQ und NSA, wie sie Edward Snowden aufgedeckt hat, müssen global neu reguliert werden, wie ich in einem anderen Artikel zur globalen Regulierung von Geheimdiensten artikulierte.
Ein anderer Aspekt ist die Frage der Verschlüsselung. Alan Turing hat gezeigt, dass es keine absolut sichere Verschlüsselung gibt. Es gibt nur weniger teure Verschlüsselung und teurere Verschlüsselung. So lautet denn auch in den letzten 20 Jahren in der Kryptographie das Dogma, dass die relative Sicherheit durch Verschlüsselung eine Funktion des finanziellen Aufwandes zur Verschlüsselung ist: je teurer desto sicherer. Absurd aber wird es, wenn der Bürger finanziellen Aufwand treiben muss, um seine sexuellen und finanziellen Geheimnisse vor einem Staat zu schützen, den er selbst mit seinen Steuern finanziert und der sich gegen ihn statt gegen den äußeren Feind richtet. Hier ist nicht stärkere Verschlüsselung die Lösung, sondern mehr Law and Order im Staat bei der Überwachung des Staates.
Pardon und heutige Aktivitäten
Seit den späten 2000er Jahren kamen bei den britischen Bürgern Bestrebungen auf, dass der britische Staat sich für sein schäbiges Verhalten gegen Alan Turing wegen seiner Homosexualität entschuldigen solle. 2009 entschuldigte sich dann auch der damalige Premierminister Gordon Brown. Aber David Cameron, sein Nachfolger, weigerte sich die Verurteilung Alan Turings aufzuheben. Im Dezember 2013 wurde von der Queen ein Royal Pardon ausgesprochen, nach dem Alan Turing als rehabilitiert anzusehen ist.
Aber der Heterosexuelle Benedict Cumberbatch, Familienmitglieder von Turing und weitere tausende von Briten fordern, dass alle wegen Homosexualität verurteilten Briten offiziell rehabilitiert werden sollen und das Fehlverhalten des Staates gegenüber Homosexuellen endlich eingestanden wird.
Schlussbemerkung
Als Heterosexueller erfüllt es mich mit großem Ekel, wie die Gesellschaften mit Homosexuellen umgegangen sind und z.T. noch umgehen. Statt unser Bestes zu geben, um einem Nationalhelden und brillanten Wissenschaftler optimale Bedingungen zu schaffen, dass er seine Genialität zu unserem Nutzen einbringen kann, haben wir uns schändlich an vielen Homosexuellen beiderlei Geschlechtes vergangen. Das darf uns nie wieder passieren!